Von Andre Lundt
Um die Mittagszeit des 29. Oktober 2014, nach dem geführten Rundgang durch die Ost-Jerusalemer Altstadt, verabschieden wir uns von Pastorin Ulrike Wohlrab oberhalb des Platzes der Klagemauer. Von hier aus führt uns Georg in den seit langem umstrittenen Stadtteil Silwan, in dem derzeit etwa 55.000 Palästinenser und etwa 400 zionistische Siedler leben.
Mit Beendigung des Sechs-Tage-Krieges 1967 dehnte Israel die Grenzen seines Besatzungsgebietes weit über die alte Stadtgrenze von West- und Ost-Jerusalem aus und verleibte sich damit zugleich Silwan ein, das seit 1948 unter jordanischer Verwaltung stand. 1980 erfolgte schließlich – zusammen mit zahlreichen weiteren palästinensischen Gemeinden die formelle Eingliederung des Stadtteils in das Jerusalemer Verwaltungsgebiet – allerdings im Widerspruch zu internationalem Recht. Die folgenden Jahre waren durch eine Serie von Übergriffen, Nötigungen und Enteignungen zu Lasten der palästinensischen Bewohner gekennzeichnet, deren Lebensraum auf diese Weise systematisch beschnitten wurde.
Stadtteil im „Bürgerkrieg“
Schon beim Betreten des Ortsteils Silwan von Ost-Jerusalem aus wird uns bewusst, dass wir eine Konfliktzone betreten: Wir stoßen gleich am Anfang der Zufahrtsstraße auf eine tückische Straßensperre in Form eines Reifenfängers, mit dem palästinensische Fahrzeuge auf dem Weg in die Jerusalemer Innenstadt effektiv „unschädlich“ gemacht werden können. Nur wenige Meter weiter findet sich ein weiteres Zeichen der ständigen Auseinandersetzungen zwischen jüdischen Siedlern und palästinensischen Bewohnern: Am Straßenrand aufgegeben steht ein älterer PKW mit großen Einschlagslöchern in der Windschutzscheibe.
Die Strategie der Häuserzerstörung und Vertreibung
Bei den meist erfolgreichen Versuchen israelischer Investment- und Baugesellschaften sowie Privatpersonen, sich Grundstücke und Häuser palästinensischer Bewohner Silwans anzueignen, bewiesen Spekulanten, zionistische Organisationen (wie etwa die Projektierungsgesellschaft E’lad) und auch die staatliche (Bau-)Verwaltung viel Kreativität, sich Zugang zu palästinensischem Besitz zu verschaffen. Eine bevorzugte Methode zur An- und Enteignung palästinensischer Häuser besteht in der Anwendung des berüchtigten Absentee Property Law, das aus der Zeit des Britischen Palästina-Mandats übernommen wurde. Dieses Gesetz gestand israelischen Kaufinteressenten das Recht zu, fremdes (arabisches) Eigentum zu erwerben, wenn die Eigentümer für eine bestimmte Zeit nicht an ihrem Wohnort verweilten – eine Bestimmung, die nach Belieben ausgedehnt und erfolgreich genutzt wird.
Andere Methoden der Besitzübernahme bestehen in Enteignungen nach tatsächlichen oder vorgeblichen Straftaten, durch Häuserverkauf an vorgeschobene Mittelsmänner sowie aufgrund übergeordneter (kommunaler) Planungsinteressen oder aus „Sicherheitsgründen“.
Einen besonderen, auch für den vorübergehenden Besucher erfahrbaren, Grund zur Häuserräumung liefert bereits seit den 1980er Jahren und zunehmend in der Gegenwart die Entdeckung von angeblich vorchristlichen Fundamenten der König-David-Stadt, einem Palast des ersten israelischen Königs.
Weiträumige Ausgrabungen zur Sicherung dieses Kulturerbes (die entscheidend von dem jüdisch-amerikanischen Millionär, „Philanthrop“ und „Biz-man“ Irving Moskowitz finanziert und vorangetrieben wurden) lieferten den Vorwand, zahlreiche Palästinenser aus dem Grabungsgebiet im Bustan-Viertel zu vertreiben. Allein 2005 fielen dem Kulturprojekt 88 Häuser zum Opfer, seitdem sind viele weitere hinzugekommen (siehe dazu die Dokumentation von Petra Wild zum zionistischen Siedlerkolonialismus). In diesem Zusammenhang gibt es Spekulationen ob die mit den Ausgrabungsarbeiten verbundenen Tunnelanlagen in unmittelbarer Nähe zum Südhang des Tempelberges möglicherweise auch dazu dienen, das Fundament der Al-Aqsa-Moschee zu destabilisieren. Sollte dies der Fall sein, so ließen sich daraus weitergehende Maßnahmen ableiten – zum Beispiel die Schließung des Tempelbergs „aus Sicherheitsgründen“.
Hiermit nicht genug gab der ultra-rechte israelische Wohnungsbauminister Uri Ariel vor kurzem bekannt, er wolle seinen Wohnsitz nach Silwan verlegen, um der Königsstadt nahe zu sein und die Ausgrabungen auch symbolisch zu unterstützen. Die Erfahrung lehrt, dass es bei einem Haus nicht bleiben wird, denn ein Minister benötigt einen ausreichenden Sicherheitsring um sein Anwesen. So kann man angrenzende Gebäude und Grundstücke aus „Sicherheitsgründen“ enteignen.
Rundgang durch Silwan – Besuch zweier sozialer Einrichtungen
Nähere Eindrücke von den mit den Vertreibungen und Hausenteignungen verbundenen Schicksalen erfuhr unsere Gruppe bei einem kleinen Rundgangs durch das Stadtviertel. Einen ersten Halt machen wir am Wadi Hilweh Information Center, einer Mischung aus Kultur- und Erinnerungsstätte zur Bewahrung palästinensischer Identität und sozialem Treffpunkt für die Stadtteilbewohner mit kleiner Bibliothek und einem Computerraum.
Von hier führt unser Rundgang weiter zum nahegelegenen Frauen- und Jugend-Rehabilations-Zentrum von Silwan. Auf dem Weg dahin passieren wir ein erst kürzlich von jüdischen Siedlern übernommenes Haus, zu dem uns Georg eine ebenso absurde wie erschreckende Geschichte erzählt. Die heutigen Bewohner „erwarben“ dieses Haus mit einem Trickbetrug nach dem Tod der Vorbesitzerin. Um sich als rechtmäßige Eigentümer ausweisen zu können, fälschten die Siedler den notwendigen Kaufvertrag und setzten anstelle einer Unterschrift einen Fingerabdruck der schon verstorbenen früheren Eigentümerin unter das Dokument. Zwar erklärte wenig später nach Aufdeckung dieses Betrugs ein Gericht den Kaufvertrag für ungültig, doch hatte dieser Urteilsspruch keinerlei praktische Folgen. Wie so häufig missachteten die Neubesitzer den Gerichtsentscheid und auch die Stadtverwaltung zeigte keinerlei Vollzugsinteresse. So hatte das Unrecht Bestand.
Als wir kurz darauf das Frauen- und Reha-Zentrum erreichen, das sich das Erdgeschoss eines Hauses mit dem hiesigen Büro der GIZ (der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit) teilt, empfängt uns Petra Salz, eine deutsche Mitarbeiterin des Zentrums. Ihr Aufgabe vor Ort besteht im Wesentlichen in der Betreuung von Kindern und Jugendlichen, die in Silwan leben und dort entweder unter Arbeitslosigkeit und sozialer Chancenlosigkeit leiden oder aber sich durch die andauernden Übergriffe der israelischen Organe auf Menschen, Häuser und andere Sachgüter entmutigt, gedemütigt und entwertet fühlen. Um diesen jungen Menschen Halt und ein gewisses Maß an Lebensfreude zu geben, aber auch, um sie vor einem Abgleiten in Gewalt oder Kriminalität zu bewahren, kümmern sich Petra Salz und andere Betreuer um sinnvolle Formen der Beschäftigung der Jugendlichen, etwa um ein Angebot an Spielen, sportlichen Aktivitäten, Kursen oder an gemeinsamen Unternehmungen in der Gruppe.
Entrechtung und Nötigung im Alltag
Schon gleich nach der Begrüßung wird deutlich, wie sehr Frau Salz auch jetzt noch unter dem Eindruck eines aktuellen Tagesereignisses steht: Wie schon in den Tagen und Wochen zuvor haben auch heute wieder Polizeieinheiten palästinensische Häuser gestürmt und die Einwohner vertrieben. Wie wir bei dieser Gelegenheit erfahren, erhalten die vertriebenen Palästinenser für die Räumung und die Vertreibung aus ihrer Wohnstatt keinerlei Entschädigung. Im Falle einer gleichzeitigen Hauszerstörung (laut „demolition order„), die entweder als Strafe für politischen Widerstand oder wegen kommunalen „Eigenbedarfs“ vollzogen wird, verlieren die Eigentümer neben ihrem Haus nicht nur große Teile ihrer Einrichtungen, sondern müssen den Abriss auch noch selbst bezahlen. Für uns Mitteleuropäer mit einer demokratischen Rechtskultur sind diese Praktiken empörend und kaum nachvollziehbar.
Nicht minder verstörend erschien uns ein zweites Erlebnis in unmittelbarer Nähe des Reha-Zentrums. Nach einer vor zwei Tagen vollzogenen Hauszerstörung setzte die Polizei die davon betroffene Familie samt ihrer noch kleinen Kinder auf die Straße, ohne sich um eine weitere Unterkunftsmöglichkeit und Versorgung zu kümmern. Selbst der kleine Hausviehbestand der Bewohner wurde aus dem Stall auf die Straße geschafft, ohne weitere Folgen zu bedenken. Nur solidarischer Nachbarschaftshilfe war es zu verdanken, dass ein Pferd und zwei Schafe auf einem Abstellplatz wenigstens vorübergehend untergebracht werden konnten.
Beim nachfolgenden späten Mittagessen – man serviert wieder Hühnchen – kann sich die Gruppe für kurze Zeit von den Eindrücken erholen, doch gibts es, wie sich bald zeigt, noch mehr zu erfahren.
Eine einheimische Mitarbeiterin des Frauenzentrums ergänzt unsere bisherigen Informationen mit weiteren Details über Hausräumungen. Demnach kündigt die zuständige Behörde geplante Abrissmaßnahmen (aus Gründen übergeordneten Raumbedarfs) den davon Betroffenen bis zu einem Jahr vor Vollzug an, jedoch ohne den tatsächlichen Räumungstermin zu nennen – eine für die Familien schwer erträgliche Zumutung, da sie gewissermaßen während der Wartezeit „auf pepackten Koffern“ sitzen müssen. Kommt es dann schließlich zur Hauszerstörung, so müssen die vertriebenen Bewohner auch noch selbst die Kosten dafür tragen. Häufig erklären sie sich deshalb bereit, ihr gewohntes Heim eigenhändig einzureißen, wodurch sie wenigstens die Ausgaben für das Abrissunternehmen sparen.
Maßlose Bestrafung jugendlicher „Delinquenten“
Um die Liste der Grausamkeiten zu vervollständigen, berichtet unsere Informantin noch von den unzumutbaren Haftbedingungen, denen sogar Kinder und Jugendliche in israelischen Gefängnissen oder Arrestzellen ausgesetzt sind: Werden jugendliche Täter nach Widerstandshandlungen festgenommen, so erwartet sie in der Regel eine unangemessen lange Haftzeit, in der sie auch körperlichen Züchtigungen, längerer Isolation, verletzenden Beleidigungen und anderen Formen psychischer Folter ausgesetzt werden – nicht selten in solchem Ausmaß, dass sie nach ihrer späten Entlassung extrem verstört, wenn nicht völlig traumatisiert sind.
Besonders berüchtigt geworden ist in diesem Zusammenhang der sogenannte „Room No. 4„, eine Verhöreinrichtung im russischen Viertel von Jerusalem. Der euphemistische Name des Haftraums deutet auf zynische Weise an, dass jene, die hier einer Behandlung unterzogen werden, den Raum nur auf allen Vieren wieder verlassen können. Dass die Genfer Konvention und die Allgemeinen Menschenrechte eine solche Behandlung strikt verbieten, scheint die zuständigen israelischen Vollzugsbeamten nicht zu stören.
Zwar besteht zur Inhaftierung Jugendlicher in israelischen Haftanstalten unter gegebenen Umständen eine mildere Alternative, doch auch diese trägt immer noch Züge eines inhumanen Strafkonzepts. Junge Straftäter können danach – wenn ihr Vergehen minder schwer beurteilt wird – ihren Arrest im eigenen Haus und damit ohne Trennung von ihren Angehörigen verbüßen, jedoch sind für dessen strenge Einhaltung die Eltern selbst verantwortlich – eine zweifelhafte Korrekturmaßnahme, weil sie zwangsläufig zu innerfamiliären Konflikten führen muss. Erschwerend fällt bei dieser Bestrafungsart ins Gewicht, dass den betroffenen Kindern während der gesamten Arrestzeit der Schulbesuch verboten wird. Auch mit dieser Maßnahme tragen die Verantwortlichen dazu bei, dass die ohnehin schon erschwerte Schulausbildung der palästinensischen Jugendlichen weiterhin beschnitten wird.
Um kaum einen Stadtteil streiten Israelis und Palästinenser so sehr wie um Silwan. Da liegt der Ursprung Jerusalems. http://t.co/FE7zn8dMHy
— taz (@tazgezwitscher) February 11, 2015
Internet-links
Wadi Hilweh Information Center
Karte von Silwan vom Wadi Hilweh Information Center – Silwan
Taz-Artikel über Silwan vom 11.02.2015