Jiftlik-das Dorf, das es nicht geben sollte

Unser Besuch in Jiftlik im Jordantal am 22. Oktober 2014 folgte direkt im Anschluss an den Besuch in der jüdischen Siedlung Rechalim. Es war bedrückend zu erleben, wie erbärmlich die Lebensbedingungen für die palästinensische Bevölkerung dort unter der ständigen Bedrohung durch die israelische Armee und aggressive jüdische Siedler sind. Auf dem Weg dorthin passieren wir zahlreiche jüdische Siedlungen, die sich durch die gepflegten und üppigen landwirtschaftlichen Nutzflächen deutlich von den palästinensischen Feldern unterscheiden. Schon auf den ersten Blick erkennt man so, welche Folgen die ungerechte Wasserzuteilung für die Bodenkultivierung hat. Bei unserer Ankunft In Jiftlik empfingen uns zwei Mitarbeiter der deutschen NGO Medico International sowie der palästinensische Vorsitzender des landwirtschaftlichen Komitees der Gemeinde. Medico International unterhält in Jiftlik einen Kindergarten und setzt sich für die weitere Entwicklung einer zumindest grundständigen Infrastruktur des Dorfes ein.

Im Verlauf eines kurzen Vortrags an der Grenze zu einer der direkt benachbarten jüdischen Siedlungen erfahren wir, dass es früher – vor 1967 –  36.000 landwirtschaftliche Betriebe gab. 1968 sind viele Dorfbewohner infolge der israelischen Besetzung nach Jordanien geflohen. Einzelne Versuche der früheren Einwohner,  sich später erneut in Jiftlik anzusiedeln, wurden laut einer bei Petra Wild zitierten Dokumentation aus dem Jahr 2012 durch das israelische Militär gewaltsam verhindert; darüber hinaus setzte man „ehemalige“ palästinensische Landbesitzer auf eine „Schwarze Liste“, um ihnen so die Rückkehr auf ihre Ländereien unmöglich zu machen.

Das heutige Dorf setzt sich aus 5 Nachbarschaften zusammen, die aus jeweils einer großen Familie gebildet werden. Aktuell leben hier ca. 4.000 Menschen, und trotzdem wird die Existenz des Dorfes von Israel nicht anerkannt. Das hat zur Folge, dass es keine öffentliche Strom- und Wasserversorgung gibt. Auch ein Abwassersystem ist nicht vorhanden. Welche Auswirkungen diese Schikanen auf die im dauernden Widerstand lebende Bevölkerung hat, kann man sich als unter normalen Bedingungen lebender Bürger nur schwer vorstellen.

Die Bewohner Jiftliks stehen unter den gegebenen Bedingungen vor vielfältigen Herausforderungen:

  • 4 jüdische Siedlungen in unmittelbarer Nähe greifen immer wieder auf ihr Land zu und bestreiten ihnen das Recht auf Bleibe, Arbeit und ein geordnetes Leben
  • Israelische Kontrollpunkte überwachen permanent den Zugang zum Dorf und hindern die Bewohner damit am Transport von Feldfrüchten zum Markt ebenso wie an der dringend notwendigen Einfuhr von Saatgut
  • Der Zugang zu Trinkwasser und Nutzwasser für die Landwirtschaft sind stark beschränkt, denn in den Friedensabkommen von Oslo hat Israel die Kontrolle über das Wasser zugesprochen bekommen (siehe auch unten den Abschnitt zur Wirtschaft im Jordantal)
  • Immer wieder müssen die verbliebenen Palästinenser die Zerstörung ihrer Häuser, ihrer landwirtschaftlichen Einrichtungen und Brunnen erdulden

Massive Zerstörungen der bäuerlichen Lebensgrundlage

Bereits in den letzten 2 Jahren kam es alle 2 bis 3 Monate zu Zerstörungen von Wohnhäusern, Brunnen und Wirtschaftsanlagen. Gänzlich unerwartet werden wir selbst Zeugen der jüngsten Verwüstungen, die Militär und Verwaltung erst zwei Tage zuvor vor Ort angerichtet haben. Mindestens sechs Häuser samt Ställen und Anbauten wurde bei dieser Militäraktion zerstört. Dass die hier noch arbeitenden Bauern nach solch einschüchternden und gewalttätigen Übergriffen überhaupt noch fähig und bereit sind, an diesem Ort auszuharren, liegt nicht zuletzt an der aktiven Unterstützung durch ausländische NGO’s, denn nur unter deren Schutz und kritischer Beobachtung ist ein Überleben in Orten wie Jiftlik möglich.

Mit der bloßen Zerstörung allein ist es nicht getan. Nach geltendem Militär-Sonderrecht dürfen die eingerissenen Häuser nicht wieder aufgebaut werden, sonst droht die endgültige Vertreibung.
Im Hintergrund auf den oberen Bildern sind deutlich die benachbarten jüdischen Siedlungen zu erkennen. Zwischen ihnen und dem palästinensischen Wohngebiet verläuft eine Straße, die bisher als informelle Grenze galt. Jetzt jedoch wird immer wieder versucht, die jüdischen Siedlungen über diese Straße hinweg auszudehnen, um Raum für eigene Gewächshäuser hinzuzugewinnen. Allein dieser Platz hier wurde bereits fünf bis sechs Mal niedergewalzt, auch die Tiere wurden in dieser Aktion getötet. So wird beharrlich um jeden Quadratmeter gekämpft, Tag für Tag.

 Die Funktion militärischer Sperrgebiete

Nach einer kurzen Fahrt erreichten wir einen verödeten Teil der Siedlung mit vereinzelt in der Landschaft stehenden Betonelementen, die das Militär kurzfristig und willkürlich auf geräumten Freiflächen aufstellt – oft über Nacht und für die Anwohner völlig überraschend. Durch diese Art der Umwandlung von Wohn- oder Wirtschaftsgebieten in militärische „Schieß- und Übungsplätze“ werden über weite Strecken hinweg Siedlungen voneinander abgetrennt und soziale Kontakte unterbrochen.

Unsere Begleiter berichten, dass die militärische Übungen auf diesem Areal auch gegenwärtig regelmäßig stattfinden, und das ohne lange Vorwarnzeiten. Diese Manöver dauern in der Regel 48 Stunden, während dieser Zeit müssen die Bewohner das Sperrgebiet verlassen. Nach Beendigung der Übung bleiben häufig Blindgänger zurück, die später explodieren, wodurch bereits viele Menschen verletzt wurden. Neben der direkt spürbaren Bedrohung der Anwohner durch Geschosslärm und Verletzungsgefahr ergibt sich ein andauerndes Gefühl der Angst und des Ausgeliefertseins.

Als wir diesen unwirtlichen Ort mit dem Bus wieder verlassen wollten, um in das ca. 20 km entfernte Nablus zurückzukehren, wurden wir am Checkpoint am Dorfausgang angehalten. Ein Soldat kontrolliert gewissenhaft die Papiere unseres Fahrers.  Aus nicht genannten Gründen wird uns die Durchfahrt auf der direkten Route nach Nablus jedoch verweigert und so müssen wir einen Umweg von ca. 40 km fahren.  Es war reine Willkür, die sich gegen unseren palästinensischen Fahrer richtete, obwohl die Soldaten nach Aussage unseres Reiseleiters angewiesen sind, Touristen keine Umstände zu bereiten.

 Die Situation im Jordantal

Die Lage Jiftliks und seiner Bewohner ist bezeichnend für die Lebenssituation der im Jordantal nach 1967 noch verbliebenen Palästinenser überhaupt.
Anders als in den übrigen Gebieten des Westjordanlandes, in denen Palästinenser zumindest noch in ausgewiesenen Räumen über ein Mindestmaß an Bewegungsfreiheit verfügen – was an sich schon wenig ist – ist für sie das Jordantal mittlerweile fast „Ausland“.  Schon immer galt die Senke an der jordanischen Grenze, ein Teil des biblischen Kanaans, wegen der reichen natürlichen Wasserversorgung als überdurchschnittlich fruchtbar und damit unter wirtschaftlichen Aspekten als vielversprechend für die Ressourcenausbeutung.

Dies war dann auch für Israel neben der Sicherung der östlichen Außengrenze seines Machtbereichs der wichtigste Grund, sich einen breiten Landstreifen mit einer Fläche von 1600 km2 entlang des Jordans zu sichern und möglichst viele Palästinenser von dort zu vertreiben.  Die Zahlen sprechen für sich: Noch 1967 lebten hier über 250.000 Palästinenser, während sich heute nur noch maximal 60.000 mühselig in der Region behaupten können.
Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Die gesamte Talregion wurde mit dem Oslo-Abkommen zur C-Zone unter alleiniger israelischer Verwaltung erklärt; 60 % des Gebiets wurde darüber hinaus als geschlossene militärische Zone deklariert, was de facto unter anderem bedeutet, dass Palästinenser nur 9 % – manche erwähnen auch lediglich 6 % – des Landes besiedeln und bebauen dürfen. Der restliche Gebietsteil entfällt auf jüdische Siedlungen und sogenannte „Naturschutzzonen“ und ist damit für die palästinensische Bevölkerung nicht zugänglich. Hinzu kommt die desolate Wohnungssituation, eine Folge der langandauernden Vertreibung, vor allem durch planmäßige Häuserzerstörung. Die Dramatik der Situation hat Medico international in einer Dokumentation von 2012 mit eindeutigen Zahlen belegt:

„Seit 2000 wurden mehr als 4800 palästinensische Häuser und andere Bauten (Schulen, Moscheen, Lagerräume etc.) abgerissen. Jeder zehnte Palästinenser in der Zone C musste seit 2000 sein Haus mindestens einmal verlassen, weil es abgerissen oder er von der Armee vertrieben wurde. Allein zwischen 2009 und Mitte 2011 gab es 1072 solcher Abrisse, dazu wurden Olivenhaine sowie Obst- und Gemüsestände zerstört. Tausende Menschen sind nach wie vor akut von Vertreibung bedroht.“

Die desolate Situation zeigt sich auch darin, dass die Palästinenser nach einer Hausräumung keinen Anspruch auf Wiedergutmachung oder soziale Unterstützung haben. Auch ein Wiederaufbau in Eigenregie ist ihnen untersagt, denn sie erhalten in der C-Zone so gut wie keine Baugenehmigung (97 % der Anträge werden verweigert), nicht einmal dann, wenn sie zerstörte Häuser oder notwendige technische Anlagen wie Zisternen ersetzen müssen, um ihre Existenz zu sichern.

Wie das folgende Video zeigt, werden sie durch israelische Verwaltung und die Sonderregelungen im Jordangebiet völlig entrechtet und häufig zur Aufgabe ihres Landes gezwungen. Obwohl Israel mit diesem Vorgehen gegen Art. 43 der Haager Menschenrechts-Konvention verstösst, besteht kaum Hoffnung auf Verbesserung der Situation.

 

Video über den Wassermangel im Jordantal, insbesondere für die Palästinenser

Ganz anders ergeht es den jüdischen Neusiedlern im Jordantal: Sie erhalten von der israelischen Regierung, vermittelt über den Jüdischen Nationalfond (JNF), jede erdenkliche Unterstützung, um sich im Jordanland niederzulassen und die Altbevölkerung zu verdrängen.  Um jüdische Zuwanderer zur Niederlassung im Tal zu bewegen, gewährt der JNF jeder Familie ein Haus mit mindestens 7 ha Land, dazu einen Langzeitkredit von 15.000 € als Starthilfe, verbilligten Strom, kostenlose Gesundheitsversorgung und – ein besonderes Privileg – unbegrenztes Frischwasser.

 Ungerechte Wasserverteilung am Jordan

Während die Israelis dank der Ableitungen aus dem Jordan und moderner Methoden zur Grundwassergewinnung über reiche Wasservorräte verfügen, gehen die Palästinenser nahezu leer aus. Nach Erschöpfung vieler ihrer ehemals 209 Naturbrunnen blieben ihnen nur noch 89 erhalten. 30 Naturbrunnen gingen ihnen durch Beschlagnahmung verloren, weitere 44 Zisternen und Becken wurden im Bereich der C-Zone zerstört, was die erzwungene Abwanderung von 127 Bewohnern bewirkte. Andererseits sind den Palästinensern neue Bohrungen in größerer Tiefe laut restriktiver Rechtsverordnung nicht gestattet, so dass letztlich nur 37 % der ursprünglichen Bevölkerung über einen direkten Zugang zu Frischwasser verfügen. Die übrigen Bewohner müssen weite Wege, teils bis zu 35 km auf sich nehmen, um an das kostbare Gut zu gelangen. Im Endeffekt entfallen auf jeden Palästinenser lediglich 20 l Wasser – die landwirtschaftliche Nutzung mit eingerechnet.  Demgegenüber kann ein jüdischer Siedler im Jordantal über das Vielfache dieser Menge verfügen – der oben angeführte Videobeitrag erwähnt sogar unter Einbezug des landwirtschaftlichen Verbrauchs sogar ein Mengenverhältnis von 1 zu 75. Wie kontrovers dieses Thema ist, geht aus diesem Fernsehbeitrag hervor, der anlässlich der Rede von Martin Schulz in der Knesset 2014 erschienen ist.

 Sonstige Beiträge zur Lage im Jordantal:

Rundfunkbeitrag von 2011 im Deutschlandfunk von Beate Hinrichs:  Für Israel gibt es kein Jiftlik, Palästinenserdorf in der Westbank trotzt der Besatzung

Zeitungsartikel von 2010 im Tagesspiegel von Andrea Nüsse: Nahost, Landraub in der Westbank

Dokumentation von Medico international, verfasst von Tsafrir Cohen über die Lebenssituation der Palästinenser in den besetzten Gebieten

2 Gedanken zu „Jiftlik-das Dorf, das es nicht geben sollte“

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