Von Andre Lundt
Schon am Vormittag des 27.10. 2014 hatten wir in Bethlehem eine Fülle von Eindrücken gesammelt und während des Mittagessens von Frau Mukarkar viele Details über die gegenwärtige Situation der christlichen Gemeinde erfahren. Ein zweiter Höhepunkt des Tages erwartete uns dann am Nachmittag im Norden der Stadt an der durch den israelischen „Schutzwall“ extrem aufwändig gesicherten Grenze zu Ost-Jerusalem.
Bereits in Bi’lin wie auch bei unserer Einfahrt nach Beit Sahur waren wir der monströsen Trennmauer zwischen Israel und der Westbank sehr nahe gekommen und hatten dabei die Brutalität dieser „Sicherheitsmaßnahme“ auf bedrückende Weise gespürt. Jetzt, an dieser Grenzstelle, empfanden wir die bizarre Situation im Umkreis der Sperranlage sogar noch deprimierender – wohl auch, weil hier, ähnlich wie früher in Berlin, die Mauer direkt Wohngebiete voneinander trennt und Straßen blockiert.
Graffiti-Kunst als Zeichen des stillen Widerstandes
Bei der Anfahrt zur dem durch seine Graffiti-Kunst inzwischen „prominent“ gewordenen Mauerabschnitt hält unser Bus am Eingang einer stilisierten Eintrittspforte, durch die man in ein Flüchtlingslager gelangt. Schon an den vielen – zwangsläufig unbeschäftigten – Jugendlichen, von denen wir einige wenig später wiedertreffen werden, lässt sich erkennen, dass hier von einer Lebensnormalität unter gesicherten und friedlichen Umständen nicht die Rede sein kann. Die auffällige Pforte hat die Form eines Schlüsselloch, auf das ein überdimensionierter Haustürschlüssel montiert wurde. Dieser Schlüssel ist für die Palästinenser eines der wichtigsten Symbole ihrer Vertreibungssituation, aber auch eines der Hoffnung auf die Rückkehr in ihre verlorenen Gebiete und Häuser. Er soll die inständig empfundene Zuversicht ausdrücken, dass die aus ihren Häusern gejagten Palästinenser eines Tages in ihre Wohnungen wiederkehren können. Sehr eindringlich schildert übrigens der Arte-TV-Beitrag „Gelobtes Land“ die Bedeutung dieses Hoffnungssymbols, an das sich auch in der Gegenwart noch viele Vertriebene klammern.
Nicht weit entfernt von diesem markanten Zeichen gelangen wir zu jener Passage entlang der Mauer, die für ihre Street-Art-Galerie auch im Ausland bekannt geworden ist. Über etwa 300 m weit mutiert hier der Betonwall zu einer Art „Leinwand der Zeitgeschichte“, auf der vor allem vorbeistreifenden Touristen Protestgraffitis und provokative Widerstands-Tags dargeboten werden. Ähnlich wie bei der Eastside-Gallary in der Mitte Berlins hat sich auch hier eine Gruppe internationaler Streetart-Künstler zusammengefunden, die mit ihrem sehr individuellem Stil und kreativen Anspielungen die Brutalität und Inhumanität der Mauer bloßstellen, dabei allerdings auch nicht auf bissige Ironie verzichten. Diese kommt beispielhaft in der witzigen Losung eines Tags zum Ausdruck, der die Besatzer auffordert:
„Make Hummus, not walls!“
Andere Anspielungen in den Graffitis arbeiten dagegen ausschließlich mit quasi-fotographischen und karikaturistischen Elementen. Berühmtheit wegen ihrer provozierenden Abbildungen erlangte vor allem die Graffiti-Serie des englischen Street-Artists Banksy . Zusammen mit der internationalen Künstlerinitiative „Santa’s Ghetto“ (mit den Mitgliedern Mark Jenkins, Sam3, Ron English, Eircailcane, Swoon und Faile) gehört er zu jenen, die den größten Teil der Mauermalerei erschaffen haben. In einem Kommentar von Arte-TV heißt es dazu:
„Einen `Steinwurf´ entfernt von dem Ort, an dem der Legende nach Christus geboren wurde, verkauft eine Galerie Arbeiten Banksys und anderer Künstler. Ein gesteinigtes Jesuskind, die Taube mit der kugelsicheren Weste, Wachtürme aus Olivenholz. Aber das Banksy Bild, das für den meisten Aufruhr sorgte – ein israelischer Soldat, der die Ausweispapiere eines Esels prüft – wurde gnadenlos überpinselt. Palästinenser als Esel? Das liessen die Bürger Bethlehems nicht auf sich sitzen. Und noch ein Strassengraffiti fiel der Zensur zum Opfer: eine Ratte mit einer Schleuder. Die Gallerie hat ein Exemplar gerettet. Der Profit der Gallerie geht zu hundert Prozent an eine Stiftung für palästinensische Kinder in Not – und die haben laut Banksy ein besseres Leben verdient als ein Leben hinter der Mauer.“
Viele weitere Mauer-Zeichnungen thematisieren die Intifada-Kämpfe oder verweisen symbolisch auf die Unterdrückungsmaßnahmen, die mit dem Mauerbau verbunden sind – wie diese exemplarische Serie zeigt:
Doch neben der künstlerischen Verarbeitung der Realität bleibt die reale Wirklichkeit unübersehbar erhalten:
Bizarrer Mauerverlauf am Haus von Claire Anastas
Nach Verlassen der Street-gallery fahren wir wenige 100 Meter weiter, um ein weiteres, auf traurige Weise nicht minder kurioses „Wahrzeichen“ des Ortes zu besichtigen, wobei – je nach innerer Einstellung – bei einigen von uns doch ein leises Gefühl von Tatort-Voyeurismus aufkommt.
Kaum eine zweite Stelle der insgesamt 759 km langen Mauer, mit der die Israelis ihren arabischen Nachbarn das Betreten ihres Hoheitsgebietes unmöglich machen und sie zugleich durch Wegblockaden und Checkpoints drangsalieren, ist so vielsagend und erschreckend wie die Betonschlinge, die die Pension Anastas in Nord-Bethlehem abwürgt. Die israelischen Behörden haben diese völlig aberwitzig erscheinende Konstruktion errichtet (vgl. unter stehendes Bild), weil sie sich den Zugang zur jüdischen Gedenkstätte „Rahels Grab“ sichern wollten.
Die Folgen des heutigen Mauerverlaufs lassen sich auf dem ersten Bild gut erkennen: Zwar haben sich die Israelis das heilige Grab der Rahel (A) dank zusätzlichen Landraubs gesichert, dabei jedoch eine absolut widersinnige Grenzsituation geschaffen. Zum einen erzwang die Mauererweiterung die schwerwiegende Unterbrechung der ehemaligen Hauptverbindung zwischen Jerusalen und Hebron (Straße 10) und den Bau einer umständlichen Umgehungsstraße; zum anderen führte sie zu einer Umzingelung der Pension Anastas (Nr. 1 auf dem Plan) mit der Folge, dass das eingezwängte Grundstück nun von der Hauptstraße abgenabelt und daher nur auf Umwegen erreichbar ist. (Die Erweiterungsfläche rechts von Claire’s Haus wurde von den Besatzern annektiert, um einen Zugang zur Umgehungstraße zu erhalten).
Wie sich die Errichtung des 8 m hohen Betonwalls heute auf die Bewohner des isolierten Hauses auswirkt, konnten wir bei einem Besuch von Claire’s Souvenirladen erfahren, mit dem sie sich und ihrer Familie eine schmale Existenz zu sichern versucht.
Wie auch sonst in vergleichbaren Fällen zwingt das Militär die Besitzer mauernaher Häuser dazu, die obersten Stockwerke „aus Sicherheits-gründen“ zu räumen.
Ritueller Freitags-Aufstand gegen das Militär
Ähnlich wie schon wenige Tage zuvor, als wir eine Gruppe Jugendlicher dabei beobachten konnten, wie sie sich auf kleinere „Schaukämpfe“ mit den israelischen Grenzposten vorbereiteten, werden wir auch heute Zeuge einer derartigen Aufstellung, dieses Mal jedoch mit nachfolgender – eher symbolischer – Angriffshandlung. Eine Gruppe ca. 13 – 17jähriger Jungen hatte uns bei unserer Mauerbesichtigung beobachtet, sich dabei auch ein wenig in Szene gesetzt und nutzte nun die gute Gelegenheit, uns eine kleine Demonstration ihrer Widerstandshaltung zu liefern. Trotz dieser relativ harmlosen Provokation der Grenzsoldaten reagieren diese sofort mit dem Abfeuern von Tränengasgranaten. Hier will sich – wie wohl sonst auch – keine Seite nachgiebig zeigen.
Obwohl wir das kleine Scharmützel aus sicherer Entfernung beobachten – nur wenige verhinderte „Kriegsreporter“ aus unserer Reisegruppe rücken mit gezückter Kamera näher an das Geschehen heran -, erreichen uns doch die Tränengasschwaden, die bis zu Claire’s Haus hinüberziehen: Hustend und mit tränenden Augen ziehen sich die betroffenen Augenzeugen schnellstmöglich in Claire’s kleinen Laden zurück. Als Übersprungshandlung nach all der Aufregung kommt es – was liegt näher – zu reaktiven Aufkäufen von Souvenirartikeln: So kann wenigstens Claire einen kleinen Nutzen aus der Situation ziehen.
Für heute ist damit der allgemeine Bedarf an Grenze gesättigt. Am späteren Nachmittag fahren wir mit dem Bus nach Jerusalem hinein. Des Reiseleiters Mantra „Wir sind eine Gruppe deutscher Touristen“ zeigt seine Wirkung und so können wir den Mauerdurchlass an der Kontrollstelle zügig passieren.
Kurze Zeit darauf erreichen wir unser Hotel Old Jerusalem nur wenige Minuten Fußweg vom Damaskustor entfernt. Wir sind beeindruckt von der historischen Einrichtung des Vestibüls sowie der Gästezimmer, die ein wenig an Kemenaten einer mittelalterlichen Burg erinnern.
Na dann – Jerusalem kann kommen!
Links zum Thema:
Al-Jazerra zur Lage an der Mauer in Bethlehem
Graffiti-Sammlung der Mauergallerie 1